T. Gees: Die Schweiz im Europäisierungsprozess

Cover
Titel
Die Schweiz im Europäisierungsprozess. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzeptionen am Beispiel der Arbeitsmigrations-, Agrar- und Wissenschaftspolitik, 1947-1974


Autor(en)
Gees, Thomas
Reihe
Schweiz. Beitr. z. intern. Gesch. / Contributions suisses à l'histoire internationale 9
Erschienen
Zürich 2006: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Regula Stämpfli

Bücher zur Geschichte der Schweiz haben, falls qualitativ hochstehend, den Vorteil, nie wirklich zu veralten. Angesichts der aktuellen politischen Debatten zum Verhältnis «Schweiz und EU» empfiehlt es sich deshalb, nicht nur die aktuellsten, sondern die grundlegenden Schriften immer wieder hervorzukramen. «Die Schweiz im Europäisierungsprozess. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte am Beispiel der Arbeitsmigrations-, Agrar- und Wissenschaftspolitik 1947–1974» lohnt sich diesbezüglich besonders. Gees untersucht drei Politikbereiche, die für den von ihm behandelten Zeitraum wichtig sind: Es geht um Migrationsfragen, um die Landwirtschaftspolitik und um die Wissenschaft. Gees tut dies sowohl mit klassisch quellenkritischen historischen als auch mit sozialwissenschaftlichen Methoden, so dass ein gut lesbarer Band zur schweizerischen Europage schichte oder europäischen Schweizergeschichte dabei herausgekommen ist.

Das Buch ist voller Überraschungen und bisher noch nicht bekannten Fakten. So war die Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg nicht einfach Ausdruck veränderter wirtschaftlicher Verhältnisse, sondern in der Schweiz vor allem auch politisch gesteuert. Das Trauma des Ersten Weltkriegs hatte die Schweizer Behörden darin bestärkt, ordnungspolitische Sicherheitsmassnahmen auch in Friedenszeiten auf gesellschaftliche Sicherung auszurichten. Migration bedeutete in der Schweiz immer auch Staats- und Wirtschaftspolitik, sprich (Bürgerrechts)Schutz der Schweizer gegen die Fremden. Gees spricht in diesem Zusammenhang von einer eigentlichen Zweiklassenbürgerschaft: Die Bewegungsfreiheit, der Stellenwechsel und der Nachzug von Familienangehörigen konnten verboten werden, der sozialversicherungsrechtliche Status war tiefer. Schweizer Männer waren in diesem System immer privilegiert: zunächst und zuerst gegen alle ausländischen Männer – mit denselben Methoden aber auch gegen die einheimischen Frauen. Gees zeigt auch, dass diese politischen Ordnungsgrundsätze des Bundes bezüglich Migration eigentlich ein seltsames Verfassungskonstrukt darstellten. Denn die wichtigsten Bestimmungen zur Ausländergesetzgebung unterlagen nicht dem normalen Gesetzgebungsprozess, sondern in Verordnungen der Departemente und des Bundesrats. Dies hatte politisch den Vorteil, dass sich die Ausländergesetzgebung immer den Verhältnissen anpasste, ohne wirklich vom demokratischen Gesetzgebungsprozess «gestört» zu werden. Deshalb konnte in den 1960er und 1970er Jahren von Bundesrat und zuständigem Departement auch eine liberale Einwanderungspolitik ohne grosse politischen Diskussionen vollzogen werdenetwas, was in der bisherigen Forschung völlig unterging.

Aufschlussreich ist Gees’ Europäisierungsstudie auch bezüglich der Landwirts chaftspolitik. Entgegen der gegenwärtigen landwirtschaftlichen Verlaut barungen herrschte in der Schweiz noch bis zur Zwischenkriegszeit kein Konsens darüber, ob die Landwirtschaft sich am Markt oder an der Selbstversorgung orientieren sollte. Erst der Zweite Weltkrieg verhalf der, heutzutage als «ewige», aber damals eigentlich «neuen» Agrarpolitik zum Durchbruch. Fortan galt die Ernährungssicherung als nationales Landwirtschaftskonzept. 1964 erstritt sich die Schweiz bei ihrem Beitritt zum GATT sogar eine Sonderstellung aufgrund der Agrarpolitik, was gegenüber der Bevölkerung auch als Beitrittsargument gross hervorgehoben wurde. Gees zeigt jedoch, dass nicht die Schweiz besonders gut verhandelt hat, sondern der Konflikt zwischen GATT und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft EWG der Schweiz erlaubte, an ihrem Agrarprotektionismus festzuhalten. Dies zeigt sich übrigens bis heute: Der Schweiz gelingt es nicht, aus eigener Kraft eine nationale Agrarpolitik zu formulieren, sondern es sind meist die aus ländischen Faits accomplis, welche die schweizerischen Behörden zur politischen Planung bringen. Besonders in der Agrarpolitik zeigt sich deutlich, dass Gees mit seinem Ansatz richtig liegt, dass Schweizergeschichte vor allem Europageschichte ist.

Den dritten Bereich, die Bildungs- und Forschungspolitik, untersucht Gees unter dem Begriff der Wissenschaftspolitik. Modernen und postmodernen Gesellschaften inhärent sind die wachsenden Bereiche der Verwissenschaftlichung, der Technokratisierung sowie der weiter vorangetriebenen «Entzauberung der Welt» (Max Weber). Der Wissenschaft kam in der Schweiz als klassisch rohstoffarmem Land immer ein besonderer Stellenwert zu, ganz abgesehen davon, dass die Schweiz traditionsmässig zu den ersten europäischen Ländern gehörte, die schon während Jahrzehnten und Jahrhunderten auf ein eigentliches Volksschulkonzept zurückblicken durften. Bildung und Wissenschaft waren aber im Zeitalter der Technologie eigentliches «Kapital». Doch hier waren wiederum nicht die schweizerischen Behörden die treibende Kraft, sondern die OECD, die nach dem Sputnik-Schock alles daran setzte, die Position Europas innerhalb der Wissenschaftsmächte USA und UdSSR zu stärken. Rhetorisch positionierte sich zwar die Schweiz immer als unabhängiges, eigenständiges und aktiv agierendes Land, faktisch benahm sie sich jedoch wie ein Ball im Spielfeld der Mächte. Die Schweiz der Nachkriegszeit als eine unabhängige Schweiz, losgelöst vom Europäisierungsprozess darzustellen, ist, liest man Gees sorgfältig, höchstens politischer Jetzzeit-Wunsch denn historische Realität.

Praktisch und realistisch gestalteten Bundesverwaltung und Bundesrat den schweizerischen Europäisierungsprozess und nahmen Einfluss auf schweizerische Elemente innerhalb der europäischen Diskussionen. Es war ein Geben und Nehmen, ein dynamisches Miteinandergehen. Dies war nur möglich, weil bis in die 1980er Jahre hinein die Schweiz und Europa noch keine so ausgeprägten Mediendemokratien darstellten und damit auch der innenpolitische Druck und die öffentliche Diskussion weitgehend wegfielen, wie Thomas Gees auch zeigt. «Der Blick auf diesen Europäisierungsprozess verhilft der Schweiz zu einer ziemlich schillernden Integrationsgeschichte, die lange vor der etwas überraschenden Wende des Bundesrats in den Jahren 1991/1992 (Gesuch für einen Beitritt zur EU) eingesetzt hatte. Die Schweizer Behörden nahmen an diesem Europäisierungsprozess von Anbeginn aktiv teil, lange bevor 1957 die heutige EU mit der EWG entstand. (…) Das Bild einer isolierten Schweiz innerhalb eines integrierten Europa ist jedenfalls für die hier untersuchte Periode nicht zutreffend. Und dass die Schweiz ein Sonderfall (gewesen) sein soll, ist aufgrund der hier rekonstruierten Prozesse ebenso wenig nachvollziehbar. Die Vorstellung eines wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch hochintegrierten europäischen Landes mit einigen institutionellen Besonderheiten trifft die Sache eher.»

Es wäre eigentlich der aktuellen Politik zu wünschen, dass sie ihren ahistorischen Live-Fetischismus der medialen Rhetorikpolitik zugunsten einer vertieften Lektüre von Thomas Gees etwas opfern würde. Vielleicht hülfe dies nicht nur der Schweiz, sondern auch Brüssel, den historischen Normalitäten so viel Aufmerksamkeit zu schenken, dass sie in den gegenwärtigen Widrigkeiten etwas legitimierter, pragmatischer und auf die Zukunft gerichtet reagieren könnten. So oder so: Allen, die sich für Europa und die Schweiz in der Nachkriegszeit interessieren, ist Gees’ Schrift wärmstens zu empfehlen.

Zitierweise:
Regula Stämpfli: Rezension zu: Thomas Gees: Die Schweiz im Europäisierungsprozess. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte am Beispiel der Arbeitsmigrations-, Agrar- und Wissenschaftspolitik 1947–1974. Zürich, Chronos, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 478-480.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 478-480.

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